Im Westen verbindet man mit Tantra sexuellen Techniken. Dadurch verpasst man aber, was er zu bieten hat: Es ist eine Lebensphilosophie, die das göttlich Weibliche feiert.
Gewebe, Netz, Durchdringen
Tantra entstanden als eine Art Geheimlehre des Hinduismus und wurde später in Strömungen des Buddhismus innerhalb der nördlichen Mahayana-Tradition übernommen. Sein Beginn liegt im 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, breitete sich jedoch erst im 7. und 8. Jahrhundert aus. Das Wort bedeutet Gewebe, Netz oder Zusammenhang. “Tan” wird aber auch mit “ausdehnen” übersetzt und “tra” mit Freiheit: Das Brahmanentum war Wissen, das nur für die Mitglieder der Priesterkaste bestimmt war. Im Tantra steht die Erlangung des Wissens allen Kasten und Frauen offen. Tantra ist wie Yoga eine Wissenschaft des Bewusstseins mit Techniken und Übungen.
Tantra & Yoga
Die Tantra-Literatur gehört zu den am wenigsten erforschten Gebieten der altindischen Literatur. Das machte sie zur Basis für Spekulationen, es sei eine Geheimlehre. Die durchaus religiösen Schriften ordnet man verschiedenen Sekten zu. Typisch ist, dass einem bestimmten Gott eine weibliche Kraft oder Energie (Shakti) zur Seite steht. Ihre Bedeutung übersteigt die des Gottes oft. Die zugehörige Shakti kann verschiedene gute (Lakshmi, Sarasvati) oder furchterregende Formen (Kali, Durga) annehmen. Anders als im Shivaismus verehrt man im Shaktismus das Weibliche als das höchste Prinzip.
Das ist doch ein Kult!
Ursprünglich entwickelte sich diese philosophische Richtung als ein Kult innerhalb des Hinduismus und Buddhismus. Der theoretische Teil stimmt mit den grundlegenden Vorstellungen des Hinduismus überein. Es gibt im Tantra den Kreislauf der Wiedergeburten und den mögliche Ausstieg daraus. Auch die Vorstellung des Höchsten (Wesens) sieht man als ungeteilte Einheit. Wir leben in der Dualität, das Göttliche aber ist ungeteilt. Das gesamte Universum besteht aus Aktivität und Passivität: Shiva ist die passive Kreativität und Shakti seine Aktivität. Das eine geht nicht ohne das andere.
Sex im Tantra oder als Lebensphilosophie
Anders als in anderen Philosophien spielt die Sexualität im Tantrismus eine wesentliche Rolle. Man lebt mit allen Sinnen im Hier und Jetzt. Er nutzt die Sexualität als spirituellen Weg, um über die körperlichen Erfahrungen zur Erkenntnis zu gelangen. Dabei sind Spiritualität und Sexualität zwei Seiten derselben Energie: Sie kann als Transformation dienen. Das Ziel ist es die Erweckung der Kundalini-Kraft. Zwar spielen Körper- und Atemübungen eine wichtige Rolle, mit “Sexgymnastik” hat Tantra jedoch nichts zu tun. Sex wird kultiviert, um spirituelles Wachstum zu fördern. Alles Weibliche ist Göttlich, wird respektiert und nicht klein gehalten, wie in anderen Religionen und Philosophien. Über die Sinnlichkeit werden die Sinne verfeinert. Dabei dient der Körper als Instrument, sich selbst anzunehmen, wie man ist.