Ego, Egoismus und das Selbst

Lesedauer 6 Minuten

In der spirituellen Szene möchte man oft das Ego überwinden oder sogar töten. Was bleibt dann aber? Man kann die Unterscheidung treffen zwischen Ego und Selbst und so zu einem besseren Verständnis davon gelangen.

Die ganze Welt ist eine Familie

Du hast vieles ausprobiert und am Ende doch kein Glück gefunden? Du möchtest die beste Version von dir erschaffen und bist aber nie ganz vollkommen? Da darfst du erkennen, dass alles Äußerliche vergänglich ist, der Körper, der Erfolg und die Macht. Das Gefühl von Versagen fühlt sich vielleicht erst mal schlimm an, führt dich aber hoffentlich zu den weitergehenden Fragen:

  • Was kann das Ego wirklich befrieden?
  • Was ist das Ego überhaupt?
  • Muss und kann das Ego überwunden werden?

Durch die Überlegungen zu diesen Fragen kann ein tiefes Verlangen nach Wahrheit und Freiheit entstehen. Auf dem Weg gesellt sich die Erkenntnis dazu, dass jeder auf der Suche nach Glück ist – wir in dieser Sache mindestens alle zusammengehören – und das Ego uns immer trennen will. So steht es in der Maha Upanishad VI.72 und auch über dem Eingang des indischen Parlaments: “Die ganze Welt ist eine Familie.”

Mit Yoga das Getrenntsein überwinden

Dein Ego besteht aus all dem, mit dem du dich identifizierst. Deine materiellen Dinge, deine Position, deine Karriere, aber auch deine Werte und der freie Wille gehören dazu. Das Image, das du pflegst, ist also dein Ego, alles vor das du das Wort “mein” stellst, ist deine Anhaftung. Diese Bezeichnung begrenzt etwas und unterteilt das Allumfassende, das Selbst. Du grenzt dich also selbst aus und vom Göttlichen ab, du fühlst dich getrennt. Dabei sind das nur Schleier (Maya), die über der wahren Wirklichkeit liegen. Wenn du die Anhaftungen loslassen kannst, kommst du näher an das eigentliche Selbst, an die universelle Wahrheit heran. Das ist die universelle Quelle oder das Licht in dir, das uns alle und mit allem verbindet. Das ist total Hammer, oder?

Ego, Egoismus und das Selbst

Egoismus ist die Ichbezogenheit und bedeutet, dass man etwas nur für sich unternimmt, die Interessen anderer werden nicht beachtet. Im Yoga ist es der Ich-Macher (Ahamkara) und der sitzt im Verstand. Egoismus zeigt sich nicht nur in groben Menschen, die laut ihren Willen durchsetzen. Neben Lügen und betrügen, kann es auch einfach Überheblichkeit oder ein passiv-aggressives Verhalten sein, das egoistisch ist. Über andere schlecht zu reden oder unachtsam zu sein gehören auch dazu und verhindern, dass man sich entwickeln kann. Mitgefühl und liebende Güte helfen diese Formen von Egoismus leicht zu überwinden. Aber auch unter den Yogis gibt es die “Erleuchteten”, die andere gern wissen lassen, dass sie schon “so weit” gekommen sind. Wer viel von dem einen zeigt, zeigt auch viel vom Gegenteil.

„Wo immer du dich findest,
da lasse dich los.“
Meister Eckhart

Bist du in den Polaritäten von Vorliebe und Abneigung (Raga und Dvesha) unterwegs, ist diesmal das Ego im Spiel. Es bestimmt gern, heischt um Anerkennung und wird unruhig, wenn es nicht genügend Aufmerksamkeit erhält. Deshalb findet das Ego Meditation so schlimm, denn im Hier und Jetzt, also der Gegenwart, kann es keinen Unsinn anrichten. Das Ego ist also lieber in der Vergangenheit oder der Zukunft unterwegs, es beherrscht unsere Gedanken. Wie man mit ihm umgeht ist der Kern des spirituellen Weges. Beim Yoga gehen wir über die Übung in freiwilliger Intensität (Disziplin), Pranayama und Meditation, damit die Stimme des Herzens Raum bekommen kann.

Wozu haben wir dann denn ein Ego?

Das Ego ist dein Wächter und Beschützer – es ist für deine Entwicklung sehr wichtig: Das Ego dient dir, dich selbst behaupten zu können, dich durchzusetzen und gut auf dich acht zu geben. Es achtet darauf, dass du nicht zu viel Energie verlierst, nicht geschädigt wirst, alles bekommst, um gut zu gedeihen. Wenn etwas Unangenehmes passiert, geht das Ego in die Ablehnung, Kampf, Flucht, Starre, Lächeln auf drei Ebenen: körperlich, emotional und mental.

  1. Reaktion: Abwehr/Kampf
    körperlich = aufbrausen und laut werden
    emotional = sich empören
    mental = die Situation geistig lösen wollen/analysieren
  2. Reaktion: Festhalten
    körperlich = tatsächlich festhalten
    emotional = an Erinnerungen festhalten
    mental = sich geistig nicht lösen wollen
  3. Reaktion: Dichtmachen
    körperlich = keine körperliche Nähe zulassen
    emotional = innerliche Flucht
    mental = müde werden, es überhören

Finde dein Selbst: Das Orakel in Delphi

“Du hast Macht über deinen Geist,
nicht außerhalb von Ereignissen.
Erkenne dies und du wirst Kraft finden.”
Seneca

Die in Delphi müssen es wissen, was “Erkenne dich selbst” bedeuten soll: Zum einen bedeutet es, dass der Schlüssel der Erkenntnis in dir selbst liegt. Praktisch angewandt kommst du ein ganzes Stück weiter, wenn du öfter auf dein Bauchgefühl achtest. Und wie du dazu eine Verbindung herstellen kannst, zeigt uns Yoga: Beim Yoga geht es um nichts Geringeres als Achtsamkeit, Klarheit und Erkenntnis, wer du bist. Damit hast du drei Fliegen mit einer (Yoga)-Klappe geschlagen! Das Orakel von Delphi hat den Ratsuchenden das Schicksal in Rätselform erzählt. Am Ende durfte man sich auch noch selbst die Arbeit machen, das Rätsel zu lösen – genau wie im Yoga!

Im Yoga Sutra finden sich Anleitungen dazu bei den Yamas und Niyamas, unter anderem durch das Selbststudium (Svadhyaya). Wenn man nach seinem Schicksal Ausschau hält, ist man meist auf der Suche nach Erfolg, Glück und seiner Berufung. Was soll ich tun, um all das zu erreichen?

Ein weiterer überlieferter Satz soll sich am Orakel in Delphi befunden haben: Er mahnte mit “Nichts im Übermaß” zu Bescheidenheit. Oder, wie ich es gern formuliere: Das gute zielt immer durch die Mitte. Damit erreichst du längerfristig mehr, als mit Ehrgeiz und Wollen. Wenn du alles getan hast, was zum Erfolg beiträgt, las los! Überantworte und vertraue es dem großen Ganzen an – alles wird gut! Weitere zwei Eckpfeiler (neben Selbsterkenntnis) dürfen von dir ebenfalls entwickelt werden: Gelassenheit (Samtosha) und (Gott-)Vertrauen (Ishvara Pranidhana).

Berufung finden

Das Erkennen des eigenen Selbst führt dich zu deiner Berufung und kann der Problemlösung dienen. Je besser du dich selbst kennst, umso weniger verwirrt bist du. Dir werden deine eigenen Handlungen klarer, sie werden zielgerichteter. Es “geschieht” dir nichts mehr einfach so, du erkennst deinen Anteil daran und deine Verantwortung an allem was in deinem Leben passiert. Mit Gelassenheit und Vertrauen kommest du deine “so sein” nahe, deinem Wesenskern.

In diesem Zustand bist du befreit von allen Wünschen und kannst im Hier und Jetzt verweilen. Die Grundlage ist, mit dir selbst sehr ehrlich zu sein. Das letzte Puzzleteil, das dich zur Erkenntnis führt, ist also Wahrheit, Satya. Hast du dich selbst gefunden, kannst du in dir selbst ruhen. In der Ruhe liegt die Kraft: Meditation ist dann keine Übung mehr, die du unter “Schmerzen” absolvierst, sondern ein wunschloser Seinszustand – du freust dich drauf! Hier findest du dein “wahres” Selbst und gehst in Verbindung mit allem und jedem.

Problem erkannt – und jetzt?

Diese Unterscheidung zwischen Ego, Egoismus und Selbst bringt dich zur Kraft der Veränderung: Yoga Sutra 2, 16: “Zukünftiges Leid (Duhkha) kann vermieden werden.” Super Sache. Und wie soll das bitte gehen? Auch diese Frage beantwortet das Yoga Sutra bzw. die Kommentare zu diesem: Symptome und Ursache erkennen, das Ziel und dann Maßnahmen definieren = Heyam, Hetu, Hanam und Upaya. So einfach!

Okay, gehen wir schrittweise vor. Vom Kommentator des Yoga Sutra, Vyasa, kommt die hilfreiche Beschreibung: “Der Yoga wird durch den Yoga erkannt.” Das bedeutet, wenn du dem Yoga-Weg folgst, lernst du dich selbst zu beobachten, und kannst Ursache und Wirkung (Karma) auf die Spur kommen. Yoga ist der Weg und geichzeitig ein Zustand (Ziel).  Dieser gibt dir die nötige Willensstärke, um dein Leben zu verändern und gehört gleichzeitig zu den eigentlichen Zielen und Schätzen des Yoga:

  1. Heyam bedeutet “was zu beherrschen ist” und steht für die Symptome, das “Was”. Es ist der erste Schritt, die Erkenntnis, wo das Ego noch an den eigenen Ideen festhält.
  2. Mit Hetu kommt man zum zweiten Schritt: Du erlangst das Verständnis über die Ursache der Symptome – wie ist es dazu gekommen?
  3. Mit Hanam legst du fest, wie du damit umgehen möchtest, um eine Änderung herbeizuführen.
  4. Und letztlich legst du mit Upaya fest, welche Werkzeuge du jetzt benötigst, die Ursache und Symptome zu beheben. Wichtig ist es, die Reihenfolge zu beachten: Wenn du an der falschen Stelle ansetzt, kommst du nicht weit.

Symptome und Ursache: Heyam & Hetu

Symptome können körperlicher, emotionaler oder geistiger Art sein und beim gleichen Auslöser bei zwei Personen völlig unterschiedlich ausfallen. Symptome kannst du beobachten und wahrnehmen. Die Ursache kann in der Ernährung oder im Lebensstil liegen, der Auslöser kann ein Unfall, eine unglückliche Liebe, Jobverlust oder etwas anderes sein. Bei den Symptome müssen wir ganz genau hinschauen und Zeit darauf verwenden, um das Problem richtig zu definieren. Denn hinter de ersten Symptom liegen weitere – sonst arbeitest du dich an dem falschen Problem ab. Yoga hilft dir über die Schulung der Beobachtung und du kultivierst deine Unterscheidungsfähigkeit (Viveka) mit den acht Gliedern des Yoga.

Ziel und Mittel: Hanam & Upaya

Mit Hanam legst du ein Ziel fest, um die Ursachen und Symptome zu beheben. Dabei geht es um die Verbesserung deiner Lebensqualität und letztlich um dein Wohlergehen. Sls letzten Schritt brauchst du Upaya: Das sind die geeigneten Mittel oder Werkzeuge, mit denen du dein Ziel umsetzen und erreichen kannst. Der Ansatz ist somit individuell und niemals an den Symptomen orientiert, da die gleichen Symptome unterschiedliche Ursachen haben können. Der erste Schritt, das Problem zu definieren, ist der wichtigste. Nimm dir dafür Zeit und je klarer und ehrlicher du mit dir bist, je genauer du Ego und Selbst kennst, umso leichter verläuft der Prozess.

Was ist das Gute am Ego? Warst du schon mal in dieser universellen Verbindung und kannst du das in Worte fassen? Schreibe mir gern einen Kommentar oder komm in meinen Facebookgruppe: Annette Yoga Lifestyle Hacks.

Annette Bauer

2 Kommentare

  1. Veröffentlicht von Daniela am 20. Juni 2018 um 13:19

    anders ausgedrückt – lebensnah – formuliere ich es gerne so – das EGO ist jener Anteil, der uns auch begrenzt & festhält … und wenn wir es loslassen (und damit all das was wir damit formulieren .. Anhaftung .. irdisches Selbst .. Materie .. Identifikation) …. dann ist *einfach* ein Me(e)hr an Leben möglich. Im wahrsten Sinn der Worte.

    • Veröffentlicht von Annette Bauer am 25. Juni 2018 um 9:07

      Liebe Daniela,
      wenn Du es Dir dadurch auch erklären kannst, ist das doch sehr gut.
      Liebe Grüße,
      Annette

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